Ich hatte schon eine ganze Menge erwartet, als ich mich am Sonntagnachmittag auf den Weg ins LVR Industriemuseum machte. Denn alles, was ich in den letzten Wochen mitbekommen hatte vom geplanten performativen Konzert ‚Zukunft braucht Erinnerung‘, war schon sehr vielversprechend gewesen. Und doch wurden meine Erwartungen noch weit übertroffen.
Es ist sicherlich nicht einfach für junge Menschen 2018, sich dem Thema ‚Überleben in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus‘ angemessen zu nähern. Eine künstlerische Umsetzung ist gefragt, die den Respekt vor den Opfern wahrt und sie nicht zum voyeuristischen Gegenstand des ästhetischen Genusses macht. Andererseits sollen die Schüler*innen sich in die Situation der Opfer hineinfühlen und aus tiefstem Inneren ‚Nie wieder!‘ sagen.
Beides ist in Ausstellung und Konzert auf herausragende Weise gelungen.
Die Videoinstallation des Jahrgangs 9, die den Weg in die Gaskammern mit liebevoll gestalteten kleinen Alufolien-Figuren nachvollzog, war genauso beeindruckend wie die Fotos, die der 13. Jahrgang auf der Studienfahrt nach Auschwitz gemacht hatte. ‚Fotografiert etwas, das euch berührt‘ war die Aufgabe gewesen. Ganz unterschiedliche Motive waren zu sehen, aber ein Thema dominierte: Bilder von Menschen, die im KZ ermordet worden waren. Den Opfern ein Gesicht geben, das war den Abiturient*innen offensichtlich besonders wichtig. Eindrucksvoll auch die Kunstdrucke des 12. Jahrgangs über den Weg nach Auschwitz. Endlos erscheinende Eisenbahnschienen, Verladerampen, eine Hand, die vergeblich versucht, den Stacheldrahtzaun einzureißen. Fast so, als wären die Schüler*innen tatsächlich Zeitzeugen gewesen.
Und dann das performative Konzert selbst. Der über sich selbst hinauswachsende Lehrer-Eltern-Schüler-Chor ‚Auszeit‘, begleitet von Mitgliedern des Sinfonieorchesters Ruhr sowie unserem 12er Timo Stuhrmann am Klavier und dirigiert von Schulleiterin Doris Sawallich, sang die Lieder der Häftlinge, unterstützt von authentischem Bild- und Filmmaterial. Die ‚Moorsoldaten‘, den ‚Lindenbaum‘, vieles mehr. Der Musikkurs 12 hatte sich in der Vorbereitung damit befasst, welche Lieder die Menschen in ihrer Schulzeit gelernt hatten und welche zudem besonders populär war. Der Gesang half, in der Realität der Konzentrationslager ein wenig Würde zu bewahren. Die Musik erfüllte jedoch auch die Funktion, die SS- Aufseher zu unterhalten oder die Insassen zu diskriminieren. Diese unterschiedlichen Dimensionen überraschten und erschreckten zugleich.
Celans ‚Todesfuge‘ durfte nicht fehlen. Eine hervorragende Idee, eine Lesung des Dichters zu verwenden, denn eigentlich kann nur er selbst diesem Werk gerecht werden.
Immer wieder wurde die Kulisse der alten Zinkfabrik genutzt, um neue Perspektiven zu eröffnen. Da sang die Solistin plötzlich von oben, da kletterte der ganze Chor die große Stahltreppe hinauf, da erklang eine Stimme von ganz hinten.
Und ganz besonders bemerkenswert: die Brechungen. Immer wieder wurde das Publikum abrupt aus der Vergangenheit herausgerissen, sah sich mit den Problemen der Gegenwart konfrontiert. Flüchtlingskrise, Chemnitz, eine Partei im Bundestag, für deren Fraktionsvorsitzenden der Nationalsozialismus nur ein
‚Vogelschiss‘ in der deutschen Geschichte ist… Nie wieder? Dass wir dafür alle arbeiten, uns alle einsetzen müssen, wurde uns von den 12er-Schülerinnen Chiara Süßelbeck und Eva Pufe auf eindrucksvolle Weise eingeschärft.
Am Ende Standing Ovations. Ein Abend, der eine Wiederholung verdient hätte. Wenn es für eine Schule nicht so schwierig wäre, die Miete für eine so ideale Location aufzubringen….
Ute Rühl
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